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Eindringlich und anrührend: Ein starker „Judas“ als Spielzeitauftakt auf dem Marienberg

Theater
  • Erstellt: 06.09.2020 / 17:01 Uhr von Helga Stöhr-Strauch
Das Vorspiel beginnt auf einem Müllhaufen. Es ist das Leben -„Sein“ Leben, durch das der nur mit einer Hose und einem schäbigen Sakko bekleidete Mann steigt. Er wirft ein paar Geldscheine in den Himmel – sie sind nicht wichtig. Ein Holzkreuz, das umgedreht in einem Eimer steht, wird zerlegt – auch es ist nicht wichtig. Nicht mehr. Oder etwa doch? Judas Iskariot soll vor ungefähr 2020 Jahren gemeinsam mit anderen jungen Männern den Wanderprediger Jesus von Nazareth auf seinen Reisen begleitet haben. Es war die Zeit der Messiasse. Allein pro Jahr waren Dutzende ...
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... unterwegs und ließen sich mit Heilsversprechen feiern. So auch dieser Jesus, der Nächstenliebe predigte und unglaublich charismatisch gewesen sein soll. Judas hat ihn geliebt.

Und doch soll er es gewesen sein, der Jesus an die Römer verraten hat. „Verraten“? War dieser Jesus, den man mit Hosianna-Rufen empfing, so unbekannt? Und wieso sollte er ausgerechnet von einem seiner Gefolgsleute, die ihr eigenes Leben doch nur auf ihn ausgerichtet hatten, für ein bisschen Geld verkauft worden sein? Genau an dieser Stelle setzt das 2007 uraufgeführte Stück der Niederländerin Lot Vekemans an. Wer war dieser Judas, dessen Name für „Verrat“ steht und der sich nun seines Namens schämen muss? Wo kommt er her, was hat er erlebt, gefühlt und vor allem: Was hat er getan?

Auf dem Marienberg, wo das Einpersonenstück am Samstagnachmittag Premiere hatte, dominieren die Fragen. Antworten gibt es keine. Trotzdem ist diese Inszenierung in ihrer Dichte, Spannung und theatralischen Wirkung einzigartig. Und das liegt vor allem am grandiosen Spiel des Brandenburger Schauspielers Urban Luig. Er spielt den Judas mit einer Direktheit, sprühenden Intelligenz und mentalen Stärke, der man sich nicht entziehen kann.

Luig gibt die Titelfigur nicht als Loser und nicht als Zyniker. Sondern seltsamer Weise als Ankläger. Als gebrochenen Kämpfer. Als jemand, der nicht nur den Mut, sondern auch den Halt in seinem Leben verloren hat und durch den Scherbenhaufen seines Lebens watet, als suche er nach Anhaltspunkten, wo genau sein Fehler, „der“ Fehler zu finden ist. Warum nur, so fragt er uns, hat er Jesus nicht retten können? Er wollte ihn doch nur wachrütteln. Ihm klarmachen, dass er gebraucht wird. Ihn davon abbringen, der Prophezeiung Jesajas Glauben zu schenken. Judas wollte mit ihm weiterziehen und weiter predigen. Immer wieder tritt dieser Judas ins Publikum und blickt vermeintlich jedem einzelnen von uns ganz direkt ins Gesicht, faselt dabei etwas von „Anständigkeit“, fragt immer wieder, wer keine Eintrittskarte besitzt. Und irgendwann wird klar, dass diese Marotte kein sinnloser Textbaustein ist, sondern ein Tick. Judas’ Anständigkeitstick. Sein moralischer Rechtfertigungstick. Weil er ein anständiger Mensch ist. Mit einer eigenen Biografie, einem eigenen Leben und einem eigenen Traum.

Es ist eine starke, eindringliche und behutsame Regiearbeit, mit der der Künstlerische Leiter Frank Martin Widmaier einmal mehr sein handwerkliches Können und sein Gespür für spannende Stoffe unter Beweis stellt. Die Wahl des Ortes erweist sich als genial, zumal der Zuschauer hier, im Halbrund der Bühne, einen leicht distanzierten Blickwinkel einnehmen kann, der immer wieder zur Reflektion einlädt. Und auch das assoziationsreiche Bühnenbild (Frank Martin Widmaier) überzeugt. In ihm wirkt pantomimisch eine namenlose Figur (Annika Finning), die der Regisseur hinzu erfunden hat und die die Gedanken von Judas zu leiten, zu sortieren, zu kommentieren scheint. Sie wirkt wie ein heller, kluger Schatten, der dem Akteur Einhalt gebietet. Und an dem man sich als Zuschauer festhalten kann, wenn Judas’ Leid einen zu erschlagen droht.

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